Silvio Gesells Freiwirtschaftslehre
(vorlΣufige Version)

 

Die Gesellschaften
Die Hamburger Gesellianer-Szene - Freisoziale Union - Demokratische Mitte
Die Hamburger Geld- und Bodenrechtsschule e.V. (HGBS)
Trion-Geldberatungs Genossenschaft e.G.
Eckhard Grimmel, Fachbereich Geographie der UniversitΣt Hamburg
Fazit

 

Die Gesellschaften

Betrachtet man die Entwicklung des historischen Faschismus in Deutschland, so fΣllt auf, da▀ sich dessen politische Basis scheinbar sehr heterogen darstellt. Im Dritten Reich fanden nicht nur ⁿberzeugte Nazionalsozialisten ihr "Heil". Auch eine Vielzahl bⁿrgerlich-konservativer Str÷mungen integrierten sich in die faschistische Herrschaft. Auf der ideologischen Ebene lie▀ sich dies durchfⁿhren, weil Teile der konservativen Kritik an ihrer Gesellschaft Bestandteil der NS-Ideologie waren. Bei der Beobachtung der faschistischen Bewegung heute sollte deshalb ein Blick auf politische bⁿrgerliche Str÷mungen geworfen werden, um besser erkennen zu k÷nnen, inwieweit in diesen ZusammenhΣngen faschistische Positionen Einflu▀ haben oder dort neu begrⁿndet werden.

Eine dieser politisch-ideologischen Str÷mungen, die einerseits sang- und klanglos vom Nationalsozialismus absorbiert wurden, andererseits an der ideologischen Vorbereitung tatkrΣftig mitarbeitet, sind die sogenannten "Freiwirtschaftler" bzw. Gesellianer. Die "Freiwirtschafslehre" bzw. die "Natⁿrliche Wirtschaftsordnung" wurde nach der Jahrhundertwende von dem deutschen Kaufmann Silvio Gesell politisch begrⁿndet. Auf Gesell basieren auch die heutigen politischen und ÷konomischen Vorstellungen der AnhΣnger. Die Positionen der Gesellianer finden auch in anarchistischen, anthroposophischen und ÷kologischen Kreisen Anklang, daneben auch bei ausgewiesenen Neonazis. 1993 fⁿhrte die Kⁿnstlerszene am Prenzlauer Berg in Berlin ein Knochengeld-Experiment durch, bei dem unhinterfragt die Vorstellungen Gesells Pate standen.1

Die wesentlichen Zⁿge der Gesellschen Ideologie seien hier im folgenden beschrieben:

- Ausbeutung findet fⁿr die Gesellianer im LohnarbeitsverhΣltnis nicht statt. Nur die Geldkapitalisten beuten die Arbeitnehmer und die produktiven Kapitalisten aus, indem sie fⁿr das ausgeliehene Geld Zinsen erhalten und damit ein Einkommen ohne Arbeit erzielen. Dies ist in den Augen Gesells Zinsknechtschaft, nach Ansicht des NS-Wirtschaftsideologen Gottfried Feder raffendes jⁿdisches Kapital, welches das angeblich schaffende deutsche Kapital ausbeutet. Da das Geld von dessen Besitzern zurⁿckbehalten werden kann, sei dies auch der Grund fⁿr wirtschaftliche Krisen. Das zweite Standbein der Gesellschen ╓konomie ist die ungerechte Bodenverteilung, welche den Eigentⁿmern des Bodens ebenfalls Ausbeutung erlaubt. Hier sieht Gesell eine Vergesellschaftung des Bodens vor. Aus den ErtrΣgen finanziert sich die vorgesehene Mutterrente (dazu spΣter mehr).

- Um die Ausbeutung der Kapitalisten und Arbeiter zu verhindern und die Wirtschaft anzukurbeln, soll das Geld keinen Zins mehr bringen. Und zwar, indem das Geld periodisch abgewertet wird und so nicht zurⁿckgehalten werden kann. Das Ziel dieser Ma▀nahmen ist eine dann wirklich freie Marktwirtschaft, in der nur nach den Bedⁿrfnissen der Menschen produziert werden soll und der Tⁿchtige und Flei▀ige sich im Wettbewerb mit anderen durchsetzt. Dazu geh÷rt auch, da▀ es keine M÷glichkeiten fⁿrArbeitnehmer mehr gibt, sich zusammenschlie▀en und z.B. Lohntarif durchsetzen. Dies wΣre ja eine BeschrΣnkung der Konkurrenz unter den Arbeitnehmern und wⁿrde dem Wettbewerb schaden.

- Neben dem ÷konomischen Wettbewerb findet bei Gesell auch ein biologischer Wettbewerb statt. Oder genauer:

Der ÷konomische Wettbewerb ist nur der Ausdruck eines biologischen Kampfes des Menschen um dessen Vervollkommung. Der biologische Kampf ist fⁿr ihn die natⁿrliche Ordnung, die Lebensweise des Menschen schlechthin. In diesem Kampf kommt es durch "natⁿrliche" Auslese zu einer H÷herentwicklung des Menschen.

"Gesell propagiert zwar nicht die ▄berlegenheit einer bestimmten `Rasse', aber er hat das Bild eines `Vollmenschen' vor Augen, der stark, sch÷n, gesund und intelligent ist. Angeblich wird zwar jedem das Recht zugestanden, alleine nach den eigenen Interessen zu handeln, aber diese Freiheit findet nur dann ihre Rechtfertigung, wenn sie zu `positiver Auslese beitrΣgt"2.

- In diesem Konkurrenzkampf gibt es eine "natⁿrliche Ausnahme", die Frauen. Sie sind fⁿr Gesell eine biologische Grundlage der Evolution und mⁿssen bei ihrer Zuchtwahl (d.h. der Auswahl des Vaters ihrer Kinder) und Aufzucht der Kinder vor wirtschaftlichen ZwΣngen geschⁿtzt werden. Die finanzielle UnabhΣngigkeit der Frauen soll nach Gesells Vorstellungen durch eine Mutterrente sichergestellt werden, die vom vergesellschafteten Boden erwirtschaftet wird. Statt Emanzipation findet sich bei Gesell ein Mutterkult, der Frauen auf ihre biologische GebΣrfunktion reduziert.

Nach der Zerschlagung des NS-Regimes grⁿndeten sich in den drei westlichen Zonen freiwirtschaftliche Wahlvereine, die schlie▀lich in der Partei Freisoziale Union (FSU) zusammenkamen, die heute ihre Zentrale in Hamburg, Feldstr. 46, hat.(2a). Daneben gibt es eine Vielzahl von freiwirtschaftlichen Vereinen. In Hamburg z.B. die Hamburger Geld- und Bodenrechtsschule, den Arrow-Verlag oder die Trion-Geldberatungs Genossenschaft.

Die drei bekanntesten freiwirtschaftlichen Zeitungen sind "Der dritte Weg" (die FSU Parteizeitung), die "Zeitschrift fⁿr Sozial÷konomie" (aus dem Gauke-Verlag, Lⁿtjenburg) und die "Fragen der Freiheit" (Hrsg. Seminar fⁿr freiheitliche Ordnung, Bad Boll).

Die Gesellianer sind rege bei der Verbreitung ihrer Ideen. Immer wieder gelingt es ihnen, ihre wirtschaftlichen Vorstellungen als scheinbar sachkundige Experten in der ╓ffentlichkeit vorzubringen oder gar ihren Mⁿtterkult als Feminismus darzustellen3. Auf wirtschaftliche Fragen bezogen gelingt ihnen das, weil die Kenntnisse ⁿber ÷konomische ZusammenhΣnge in breiten Bev÷lkerungskreisen auf der Vorstellung des Tante-Emma-Ladens oder eines Wochenmarktes aufbauen, also ideologisch verzerrt sind.

Auf Vorurteile und Unkenntnis stⁿtzend argumentiert auch die Freiwirtschaftslehre, so da▀ ihre Beispiele und ErklΣrungen auf den ersten Blick sehr einleuchtend klingen. Oder wer Σrgert sich etwa nicht ⁿber Wucherzinsen fⁿr einen Dispo-Kredit ?

Die Hamburger Gesellianer-Szene
(ohne Anspruch auf VollstΣndigkeit)
Freisoziale Union - Demokratische Mitte

Die FSU hat bei Wahlen nie eine Rolle gespielt. Es gab von ihr aber immer wieder Versuche, ⁿber politische Bⁿndnisse Einflu▀ zu gewinnen 4. So verfolgte sie Anfang der Fⁿnfziger eine national-neutralistische Politik und arbeitete mit der faschistischen Deutsch-Sozialen-Union (DSU) von Otto Strasser zusammen 5.

Nach dem Verbot der faschistischen Sozialistische Reichspartei (SRP) 1952 traten etliche ihrer Mitglieder zur FSU ⁿber, so z.B. der langjΣhrige spΣtere FSU-GeneralsekretΣr Ferdinand B÷ttger. Anfang der sechziger Jahre entwickelte die FSU umweltpolitische Positionen und unterhΣlt seitdem gute Kontakte zum Weltbund zum Schutz des Lebens (WSL). SpΣter kritisierte die FSU die Entspannungspolitik, weil diese die Spaltung Deutschlands zementiere. Mitte der siebziger Jahre beteiligte sie sich am "Arbeitskreis der WΣhlergemeinschaften, UnabhΣngiger Parteien und Bⁿrgerinitiativen" (AWUB).

Dieser Arbeitskreis war ein Sammelbecken ÷ko- und neofaschistischer Gruppen, ein Wahlbⁿndnis fⁿr eine vierte Partei sollte vorbereitet werden. Aus Hamburg mit dabei war die "Gesellschaft fⁿr biologische Anthropologie, Eugenik und Verhaltensforschung", langjΣhriger Vorsitzender der bekannte Nazi-Anwalt Jⁿrgen Rieger. Auch in der Grⁿndungsphase der Grⁿnen mischten FSU-Mitglieder mit, noch heute gibt es innerhalb der Grⁿnen eine freiwirtschaftliche Str÷mung. Zur Zeit scheint ihr Schwerpunkt in der Einflu▀nahme auf ÷kologische, esoterische und anthroposophische Kreise zu bestehen.

Daneben nehmen die Gesellianer Einflu▀ auf anarchistische Kreise (gelungen ist ihnen das im Berliner Karin Kramer Verlag (!), der ein Buch verlegt, in dem Gesell als "Marx der Anarchisten" vorgestellt wird). Programmatische ▄berschneidungsfelder zu faschistischen Positionen finden sich im FSU "Gegenwartsprogramm" 6. Das "Selbstbestimmungsrecht fⁿr das deutsche Volk" wird eingefordert, ebenso wie den Mⁿttern "die ihnen grundgesetzlich zuv÷rderst obliegende Pflicht der Pflege und Erziehung der Kinder" erm÷glicht werden soll.

Die Hamburger Geld- und Bodenrechtsschule e.V. (HGBS)

Die "Schule" mit Sitz in der Mathildenstr. 7 und der Bleicherstra▀e 62 widmet sich der theoretischen Vermittlung der Freiwirtschaftslehre und unterhΣlt dazu auch den Kleinverlag Arrow. Daneben bietet sie im Hamburger Weiterbildungs-lnformationssystem Kurse zu Geld und Wirtschaft an. Da▀ sie inhaltlich die Positionen von Gesell vertritt, bleibt hier erstmal verborgen. Nicht verborgen bleibt eine weitere Konsequenz der Gesellschen Ideen, nΣmlich die Vorstellung von auf v÷lkischer Ebene abgeschlossenen WirtschaftsrΣumen. In diesem Zusammenhang ist die Hamburger Geld- und Bodenrechtsschule auch gegen einen europΣischen Zusammenschlu▀ mit gleicher WΣhrung, kultureller oder politischer Union. Auch gegen "Vermischung" der Bewohner verschiedener LΣnder wird sich ausgesprochen, dem stⁿnden Lebensrhythmus, Sprache und Bildung entgegen 7.

Trion-Geldberatungs Genossenschaft e.G.

In enger Verbindung zur HGBS steht die Trion-Genossenschaft (Gerberstr. 9). Sie bietet Beratung rund ums Geld an und f÷rdert angeblich soziale und ÷kologische Projekte. Da die Trion selbst keine Bank ist, arbeitet sie mit der dΣnischen Bank "Den Almennyttige Andelskasse - Die gemeinnⁿtzige Genossenschaftsbank Trion & Merkur" in Aalborg und Frederiksvaerk zusammen. Aus der Beratung wird so auch schnell ein GeschΣft.

Eckhard Grimmel, Fachbereich Geographie der UniversitΣt Hamburg

Dieser Geographieprofessor der Hamburger Uni genie▀t unter ╓kologen als Kritiker der atomaren Endlagerung in Gorleben einen guten Ruf. Weniger bekannt ist, da▀ er AnhΣnger der Freiwirtslehre ist. Ihm gelingt sogar eine neue, zeitgemΣ▀ere Begrⁿndung dieser Vorstellung 8. Er "beweist" die Krisenhafigkeit des bisherigen Kapitalismus aus Naturprinzipien des Kosmos und der Biologie und fordert den Kapitalismus ohne Parasiten ein. In der Beweisfⁿhrung, die KreislaufphΣnomene der Natur in Analogie auf die Gesellschaft ⁿbertrΣgt, findet sich biologistisches und v÷lkisches Denken. Auszⁿge seines Buches wurden entsprechend wohlwollend in der rechtsextremen Zeitschrift "Code" abgedruckt.

Fazit

Die Gesellianer reiten auf der ╓ko-Welle mit. Sie versuchen ihre Ideologie der "Natⁿrlichen Wirtschaftsordnung" als ÷kologische Wirtschaft zu verkaufen. Und Teile der ╓kologie-Bewegung (von Anthroposophen, Esos und Konsorten ganz zu schweigen) nehmen dies auch gerne an, mangelt es ihnen doch weniger an Empfindungen, dafⁿr ÷fters an aufgeklΣrter Vernunft. Die Denunziation von mythischen Heilslehren, und dies ist die Freiwirtschaftslehre mit ihrer biologistischen Begrⁿndung sowie rassistischen, v÷lkischen und antiemanzipatorischen Zⁿgen, ist ein "natⁿrlicher" erster Schritt, reicht aber nicht aus. Es fehlt eine tragfΣhige linke Kritik des ╓kologischen.

(1) vgl. Peter Bierl, Der Rechte Rand der Anarchie, in; ╓kolinx 13, 1994 u. Christoph Kind, Silvia Gesell und die Freiwirtschafsbewegung, in: Die Beute 4/94
(2) vgl. Christoph Kind, S. 121, s. Anm. (1)
(2a) LandesverbΣnde existierten 1993 in Schleswig-Holstein, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen, Hessen, Baden-Wⁿrttemberg, Bayern
(3) vgl. die Zeit, 10.09.93, Marktwirtschaft ohne Kapitalismus, ein Lobartikel des Gesellianers Gerhard Senft oder auch mehr zufΣllig verfolgte Rundfunksendungen im Deutschlandfunk mit langen Gesellianer Interviews, z.B. Peter Kafka oder Vera Wandnagel
(4) vgl. Peter Bierl, Anm. (1), dort weitere Infos zur Einbindung der FSU im ÷kofaschisdschen Lager
(5) Das Zinsproblem einigt den Deutschen Sozialismus bzw. Solidarismus Otto Strassers mit den Vorstellungen Gesells. Sie beziehen sich ausdrⁿcklich auf Gesell und unterstⁿtzen die ÷konomischen ReformvorschlΣge.
(6) Stand 1993
(7) vgl. die programmatischen Schrift der HGBS von Gesima Vogel: Aufbruch in eine neue Welt, Arrow-Verlag, Hamburg 1990
(8) vgl. Eckhard Grimmel, KreislΣufe und Kreislaufst÷rungen der Erde, Hamburg 1993 - Das Buch ist in der rororo-Sachbuchreihe Science erschienen.

[Aus: Antifaschistische Informationen, Rechte Organisationen in Hamburg, Nummer 1; Erscheinungsdatum: 2. Juni `95; Herausgegeben von: Bⁿndnis keinen Fu▀breit den Faschisten, c/o Schwarzmarkt, Kleiner SchΣferkamp 46, 20357 Hamburg; e-mail: kfdf@krabat.nadir.org]